Meinen lieben Celloschülern in München gewidmet!


Celloseminare und Reise durch die Ukraine
Tagebuch 
Meinhard Holler
Mai 2024

Besser hier lesen, in der:

PDF Datei Celloseminare und Reise durch die Ukraine

Hier sieht man die KOMMENTARE DER LESER zum Ukraine Tagebuch, Celloseminare 2024.

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                                          Chmeljnickij, Ukraine, am Samstag, 25. Mai 2024

Von 18. bis 30. Mai 2024 unternehme ich eine Reise in die Ukraine. Der Luftraum ist kriegsbedingt gesperrt, so fahre ich 30 Stunden mit dem Bus.
Es beginnt schon abenteuerlich; und bleibt auch so. Kurz vor Verlassen meiner Wohnung bekomme ich einen Anruf, daß unser Bus heute nicht aus München, sondern aus Nürnberg abfährt. Ich rase zum Bahnhof, erreiche in allerletzter Sekunde den Zug nach Nürnberg. Kurz vor dem Ausstieg kommt die Nachricht, daß unser Bus der Linie "Karlsruhe-Mariupol" zwei Stunden Verspätung hat. Aus diesen werden drei. So besichtige ich erstmals das prächtige Nürnberg. Sankt Lorenz mit seinem spätgotischen Hallenchor und den vielen Skulpturen, Fresken, und Bildnissen aus ebendieser Epoche macht das Warten zur Wonne. Es reiht sich in schönsten Kirchen ein, die ich je sehen durfte.
Der Bus liest noch viele Reisenden auf, bleibt in jeder kleineren Stadt stehen. Erst nach Dresden geht es zügig weiter. Durch ganz Schlesien geht es in einem Atemzug, südlich von Krakau, weit weg, leuchten uns die schneebedeckten Berge der Hohen Tatra entgegen. Wir kommen der Ukraine immer näher!

Mein Vorhaben hier ist es, den kriegsgebeutelten Bewohnern beizustehen, effektiverweise mit dem, was man am besten kann. So ergeben sich Celloseminare, über deren Verlauf ich nicht unterrichtet war, die über zehn Tage reibungslos verlaufen, sehr erfüllt waren und noch sind. Erfüllt von unserer Freude an der Musik, der Freude vieler Schüler und Studenten, deren Lehrer und Professoren, all das in schwierigen Zeiten. Ein spontanes Erlebnis vor fünf Jahren in der Stadt Chmeljnickij, Ukraine, hat sich bei mir eingeprägt und mich dazu veranlaßt, dem Direktor der hiesigen Philharmonie Taras Malyk mein Kommen und meine Hilfe anzubieten. Doch dazu später.

Zunächst habe ich Briefe nach Hause, an Familie und Freunde geschrieben, der Briefwechsel wurde immer intensiver, daraus hat sich dann dieses Tagebuch entwickelt. Meine Lieben, die hier mit mir im Briefwechsel stehen sind meine Eltern, meine drei Geschwister Heinrich, Marie-Theres und Christiane, weiters Wolfgang, Andrea, Caroline, Angelika und Walter, Philipp, Benedikt, Helgi.

Ich berichte vom bedauerlichen Zustand des geplagten Landes und seiner Leute, schildere es auch von seiner schönen Seite, gebe Einblicke in seine Kultur, seine Geschichte; 
besonders aber geht es um meine pädagogische Mission, die vielen musikhungrigen Celloschülern und -studenten der Ukraine zugute kommt. Ich widme das Tagebuch meinen lieben Celloschülern in München. Wie uns allen, ist ihnen wohl bewußt, in welch friedlicher und komfortabler Lage wir in Mitteleuropa sein dürfen. 
Ich möchte meinen Schülern jedoch aufzeigen, daß sie sich auch in pädagogischer Hinsicht in einer luxuriösen Lage befinden. Ausgesprochen sei hier, daß meine Mission für eure ukrainischen Kollegen gleichzeitig Auftrag an euch ist - ihr möget euren Vorteil erkennen und euch mehr für die Musik engagieren! 

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                                        Chmeljnickij, am Pfingstsonntag, 19. Mai

Meine lieben Eltern und Geschwister! 

Es tut mir leid, dieses Mal wieder nur kurz in Hornegg sein werde - ich hatte schon vor längerer Zeit eine andere Zusage gegeben, die nun zustande gekommen ist.
Ich bin seit gestern in der Ukraine und gebe Celloseminare für Schüler und Studenten in diversen Musikschulen und Konservatorien. Schon vor sieben Jahren waren Jura und ich auf unserer ersten Ukraine Tournee hier zu Gast, mit Sonaten für Cello und Klavier von Beethoven, Chopin und Šostakovič.  

Für die Leser des Tagebuches sei angemerkt: Jura, Yuri Kot ist ein berühmter ukrainischer Pianist, Professor an der Musikakademie in Kiev, trägt alle Auszeichnungen des Landes, die zu vergeben sind. Er unterrichtet mit Olivera von der Spezialschule für Musiktalente in Ćuprija, Serbien (Violine) und mit mir (Cello) seit dem Jahre 2007 Sommer für Sommer an der colluvio Chamber Music Academy Studenten aus aller Welt.
Jura spielt eine große Rolle für meinen Aufenthalt, zieht im Hintergrund aus Split die Fäden, stellt Kontakte her. Er hat zunächst ein halbes Jahr gezögert, mir den Kontakt zu Taras Malyk zu geben, weil er besorgt war, ich würde mich hier einer Gefahr aussetzen, ist letztendlich vor zwei Monaten nach meinem Drängen doch mit der Telefonnummer herausgerückt.
 

Jura und ich probten 2017 hier in dieser Stadt das Programm zwei Tage lang, da hat mich Taras Malyk, der Direktor der Philharmonie von Chmeljnickij gebeten, ob sein Sohn Andrii mir vorspielen dürfte. Seine Cellolehrerin war auch dabei, unser Wirken sprach sich herum, und so wurden es immer mehr Kinder, die einen Unterricht haben wollten, sodaß es bis zum Abend gedauert hat. Ich bin mit soviel Blumen nach Hause gegangen, wie ich kaum tragen konnte.
Diese Begebenheit habe ich nicht vergessen, habe mit dem Direktor der Philharmonie im März 2024 vereinbart, daß ich jederzeit kommen kann und mit den Kindern arbeiten, als freiwilliger Helfer natürlich, sämtliche Kosten würde ich selbst übernehmen, Reise, Kost und Logis. Die Zeit für so einen Schritt ist jetzt, denke ich mir, da hier allen immer mehr und mehr die Luft ausgeht. 

Der Direktor hat mir heute gesagt, daß er dafür kämpft, die Musiker seines Orchesters vor der Mobilisierung zu bewahren. Es müssen dennoch viele zur Front. So haben die Kinder hier auch immer weniger Lehrer. Heute um 14 Uhr geht mein Seminar los. Ich bin sehr gespannt, was da kommen wird.
Ich wollte euch im Vorfeld nichts von meiner Fahrt erzählen, damit ihr nicht beunruhigt seid.
Doch macht euch keine Sorgen, es geht mir gut. Man merkt zwar den Krieg an allen Ecken, auch wenn wir weit von der Front weg sind, ich bin hier jedoch sicher.

Ich bin hier bis Sonntag, 26.5., fahre dann weiter nach Lemberg. Damit ich bei der Rückfahrt nicht noch so eine lange Busreise habe, fahre ich zurück mit dem Zug. Es war allerdings nicht leicht, ein Ticket über die ÖBB zu buchen, das zeitlich paßt und für das es noch Karten gibt, wegen Fronleichnam wahrscheinlich. So werde ich drei Tage in Lemberg als Tourist sein. Weil es von der Verbindung her nicht anders geht, muß ich schon am Tag vor meiner ÖBB-Fahrt (30.5.) nach Przemyśl, gerade über der Grenze in Polen gelegen, übernachte dort und besichtige das sicherlich schmucke Städtchen, fahre zu Mittag weiter nach Wien, dann mit dem Flixbus bis Graz Murpark. Ich bitte, daß mich jemand am Fronleichnamstag, 30. Mai um 23.30 in Graz-Murpark abholt. Am Sonntag, 2. Juni geht um 16.00 Uhr von Graz-Webling mein Bus nach München. 

Ich freue mich auf unser Wiedersehen!

Alles Liebe,

euer Meinhard 

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                                                                 München, am Montag, 20. Mai

Lieber Meinhard,

bist gut in der Ukraine angekommen? 
Wegen Probenlokal im CZM fahre ich dieser Tage mit Leonard kurz ins CZM um seine Einschätzung zu hören. 

GlG Wolfgang David 

(Wolfgang ist der Vater meines lieben 16-jährigen Schülers Leonard, mit dem ich schon zehn Jahre lang arbeite. Mit sechs Jahren haben wir die ersten Töne am Cello zusammen gespielt. Man hat ihm immer gerne zugehört. Gerade wird aus ihm ein richtig guter Musiker.)
                                                                                                                                             

 

Chmeljnickij, am Montag, 20. Mai

Lieber Wolfgang!  

Vielen Dank der Nachfrage!
Heute war schon der erste Arbeitstag hier. Lauter wißbegierige Kinder und Studenten, die sehr dankbar über korrekte Information sind. Es ist eine Freude, ihnen helfen zu können!
Jetzt ist der richtige Moment dafür, denke ich mir, da sich hier die Menschen immer mehr durch den Lauf der Kriegslage in die Enge getrieben fühlen, Angst vor Zukunft, Mobilisierung, Bomben, Drohnen, Raketen... Mit all dem bin ich gleich am ersten Tag (!) hier konfrontiert worden.
Bin sicherlich nicht zur Unzeit gekommen.
Ich schicke einen Brief an meine Familie mit, so bist Du informiert. 

Grüß den lieben Leonard schön von mir und sei auch Du herzlich gegrüßt, aus der schönen Ukraine!

Euer Meinhard

  

                                                                  München, am Montag, 20. Mai

Lieber Meinhard, 

danke dir sehr herzlich, dass du mich an deinen so wertvollen Erfahrungen teilhaben lässt! Um es kurz zu machen: du bist ganz offensichtlich der Richtige zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Und das ist ganz wunderbar. 
Ich denke es wird immer dringlicher, Prioritäten zu setzen und dort entschieden zu unterstützen, wofür wir für vorbereitet wurden in der "Schule des Lebens". Es geht nicht um Selbstaufgabe, hingegen seinem Selbst eine Aufgabe zu geben bzw. geben zu lassen. Eine Aufgabe, die über den eigenen Tellerrand raus geht. 

Alles Liebe und Gute dir und allen, mit denen du in der Ukraine zusammenkommst.

Wolfgang

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                                                              Chmeljnickij, am Dienstag, 21. Mai 

Lieber Wolfgang!

Deinen Worten stimme ich voll und ganz zu.
Es ist ja nicht schwer, so einen Schritt zu tun. Man muß es nur vorhaben und umsetzen, die Leute in den bedürftigen Gegenden der Welt helfen einem schon dabei. Man fährt einfach hin und dann ergibt sich alles von selbst. Man muß halt wissen, wofür man am besten geeignet ist, manche als Cellolehrer, manche als Arzt etc…
Ich arbeite hier in Chmeljnickij von morgens bis abends, mit kaum einer Pause, so wißbegierig und dankbar sind alle. Die Mission ist also erfolgreich und jedenfalls sinnvoll. So dankbare Kinderaugen die ganze Zeit, unglaublich…! Es bleiben immer alle sitzen, hören die Stunden auch mit den jeweils anderen Kindern und gehen nicht nach Hause, bevor ich nicht gehe. Ich halte mein Seminar in noch recht ausbaufähigen Russisch, die Fachbegriffe für Musik und Streichinstrumente fehlen mir besonders. Da muß ich noch viel lernen. Für mich ist es ein Sprachkurs hier, für die Kinder ein Celloseminar.

Eines wird einem klar, bei derlei Initiativen. Wir leben bei uns in Mitteleuropa in einer Blase, einer glücklichen, schönen, gesunden, während an anderen Stellen der Erde, an den meisten, das Leid und der Bedarf nach Bildung unermeßlich sind. Die Schüler hier sind erstens unendlich dankbar und zweitens sehr talentiert, aber die Ausbildung ist katastrophal. 
Heute bin ich zuerst in der Musikschule Nr. 1. 
Der zwölfjährige Rodomir spielt mir vor, er lernt sicher schon seit fünf Jahren Cello. Er kann nichts, von der Haltung des Instruments, der linken Hand, des Bogens ist alles falsch, genau wie es nicht sein soll. Vor versammelter Zuhörerschaft ist es mir unangenehm, bei ihm alles umzukrempeln, aber ich weiß nicht, wo ich sonst ansetzen soll. Ich bin ja gekommen um zu helfen, nicht zu loben. An seinem Blick sieht man, daß er einen scharfen Intellekt hat, schon nach kurzer Zeit wird alles um Klassen besser; es stellt sich heraus, daß er über die Maßen talentiert ist. Ich muß nichts zwei Mal sagen; obwohl er sich auf völlig neuem Terrain wie auf Glatteis bewegt, all die Information ihm davor nie zu Ohren gekommen ist, merkt er sich alles und spielt am Ende der Stunde ganz anderes, wie ausgetauscht. Ich würde Rodomir am liebsten einpacken und mitnehmen. 
Wenn meine Schüler in München wüßten, in welch komfortabler pädagogischer Lage sie sich befinden. Aber sie kennen es ja auch nicht anderes. Ich sollte ihnen wirklich erzählen, wie es hier zugeht. Was für scheußliche, ausrangierte, halb kaputte, klanglose, fast stumme Instrumente und Bögen sie hier zur Verfügung haben, das ist quasi nichts, eher kontraproduktiv, als Brennholz geeignet. Der 17-Jährige Andrej, ein ganz musikalischer, Junge, ein Poet auf seinem Instrument, hat ein derart schlechtes Cello (gekauft!), daß ich ihm vieles gar nicht zeigen konnte, besonders den Klang nicht, denn der kommt nicht aus diesem Cello. Es klingt, als wenn eine Gans oder ein Schwan einen anfaucht. Er jedoch kennt nichts anderes.
Man müßte eine Spendenaktion organisieren, in Deutschland mittelmäßige Instrumente und Bögen sammeln, die niemand mehr spielt und den Kindern hier schenken. Das ist dringend vonnöten, allen wäre gedient, Glück käme über sie. Ich habe so etwas früher zum Teil schon in Serbien umgesetzt, wo die Lage auch nicht viel besser ist, obwohl der Krieg dort schon 25 Jahre vorbei ist; der Zustand der Gesellschaft ist jedoch wie im Krieg, noch immer. Dort habe ich letztes Mal, im April einen Schwung Bögen mitgebracht, mit denen die Kinder nun überglücklich sind!
In der Musikschule Nr. 1 höre ich noch Angelina und Miroslava, auch sie vollbringen Wunder. Es ist schwer, ihnen allen Adieu zu sagen. 

Danach habe ich in der "Musikschule Raduga" gearbeitet und gesehen, daß die gesamte Belegschaft in den Pausen Tarnnetze für die Stellungen an der Front flicht. Unglaublich! Aber was soll man machen – Krieg ist hier. Die Bedrohung ist nicht zu leugnen. 

So, nun genug für heute – sonst wird´s noch unerträglich. 

Alle Gute! 

Meinhard

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                                                               München, am Mittwoch, 22. Mai

Lieber Meinhard,

ich bin sehr dankbar, dass du hier auch ins Detail gehst! Denn sehr schnell kann man sich in Allgemeinplätzen verlieren, vor allem in Bereichen, in denen man sich nicht so auskennt, wie ich im Cello Dasein.  

Ich halte deine Spendenaktion Idee für spannend. Ließen sich denn Celli zuverlässig in die Ukraine liefern oder gäbe es dort geeignete Instrumente, und fehlt es vor allem am Geld zum Ankauf (oder auch anderem wie Kenntnisse und Logistik)?  

Und ja, Du musst Deinen Schülern erzählen, wie es andere Cello Studenten haben, im "Rest der Welt".

Liebe Grüße

Wolfgang David 

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 Danke dir...sehr berührend mit dem 17-jährigen Andrej...ich hatte tatsächlich auch den Gedanken, dass deine Beschreibungen Tagebuch Charakter haben, zum Teilen. 

Meine Frage bzw Überlegungen waren sehr kurz gehalten. Mich interessierte, wo denn für eine erfolgreiche Spendenaktion anzusetzen ist bzw welche Hürden zu beachten sind. Jetzt habe ich verstanden es gibt viele Hürden, die, so höre ich raus, jedoch überwindbar sind. Habe ein paar Gedanken bekommen, wie möglicherweise manche Ressourcen aus der Familie des CZM aktiviert bzw genutzt werden könnten. Ich werde mal das eruieren beginnen.  

Gute und erholsame Nacht dir 

Wolfgang David  

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                                                      Chmeljnickij, am Donnerstag, 23. Mai

Liebe Mama! 

Wenn ich abends in die Stadt spaziere, sind in ganzen Stadtvierteln die Straßenlaternen abgeschaltet, ist es so, wie sich bei uns meine Generation die Zeit des Zweiten Weltkriegs vorstellt. Die Cafés und besonders die Gastgärten sind bei dem herrlichen Wetter voll, doch an den Abenden sitzen alle nur bei Kerzenlicht zusammen. Ich muß die Kellnerin fragen, wieviel ich bezahlen soll; denn man sieht nichts, das Mobiltelefon lasse ich stets zuhause, habe also kein Licht. 

Ich arbeite ständig in für mich neuen Musikschulen der Stadt, lerne ganz viele Kinder mit ihren Problemen kennen, die wir dann eifrigst zu lösen versuchen. Die Cellolehrer sind, wie auch die jeweils anderen Kinder immer dabei, hören einander zu. Ich habe niemanden darum gebeten, es gehört hier offenbar zum guten Ton, ist Ausdruck von Wertschätzung und Manieren. 
Marina, die Cellolehrerin der "Musikschule Nr. 1" hat mir heute erzählt, daß sie froh über den frischen Wind aus Mitteleuropa ist. Denn man müßte bedenken, daß die Kinder hier psychisch wirklich großes Leid tragen - erst die lange Corona Zeit, mit Beschränkungen und Ängsten und kaum persönlichen Kontakten bzw. Unterricht, und nun der Krieg, der besonders in den Kindern viele Ängste weckt und sie psychisch deformiert, dies auch schon mehr als zwei Jahre lang. So vernachlässigt, wie sie sind, ist es ein Wunder, daß sie überhaupt noch nicht alles hingeschmissen haben und noch dazu Cello, ein wirklich ungewöhnliches und mittlerweile nicht besonders populäres Instrument spielen. 
Ich muß allerdings sagen, daß die Kinder, wenngleich die Erzählung zweifelsohne stimmt, auf mich einen ganz anderen Eindruck gemacht haben: Innerhalb nur einer Stunde erzähle ich jedem Kind die ganze Technologie des Cellospiels, Inhalte, die meinen Münchner Schülern nach Jahren des Lernens eine Selbstverständlichkeit sind, die die Kinder hier jedoch noch nie gehört haben. Sie haben den großen Wunsch, alles nachzuholen und sie haben Hirne wie Computer! Nie muß man sich wiederholen. Sie adaptieren sich sofort. Trotzdem wird es dauern, bis sie alles neu Gelernte umsetzen können. Aber es ist wirklich berührend und man hat tiefen Respekt vor ihnen allen. 
Heute habe ich den ganzen Tag gearbeitet, ohne Frühstück, die einzige Möglichkeit etwas zu mir zu nehmen - die sensiblen und fürsorglichen Eltern der Schüler haben für mich etwas gekauft, auf dem Weg von einer Musikschule zur anderen habe ich dann Muße, die gute Gabe zu essen. Wie soll man eine Pause machen, angesichts von ständig weiteren Problemen, die wir lösen müssen? Die Kinder und Lehrer sind so dankbar, daß man keinen Hunger verspürt, denn man wird schon reichlich durch Musik belohnt. 

Ich bin hier in Chmeljnickij im Gästeapartment der Philharmonie untergebracht. Mein Zimmer grenzt direkt an den Großen Saal, ich werde stets durch die symphonischen Klänge des Orchesters erfreut. Ich bin hier quasi schon zuhause, weil ich mit Jura vor fünf und vor sieben Jahren auf unseren Konzerttourneen durch die Ukraine zwei Mal auch in der hiesigen Philharmonie gastiert und gelebt habe. Diese wird ihrem Namen mehr als gerecht, ein vollendet schöner, akustisch perfekter Konzertsaal. Auch der Kleine Saal ist wundervoll. Beim zweiten Mal hatten Jura und ich Werke von Beethoven, Schumann und Mjaskovskij im Gepäck. 

Sei gebusselt und geherzt! 

Dein Meinhard 

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                                                               Chmeljnickij, am Freitag, 24. Mai

Meine Liebe! (an meine Schwester Christiane) 

Gestern war hier der Tag der Helden, gemeint sind die Verteidiger des Landes, ihrer wurde gedacht, besonders der jüngst Gefallenen. Eine der Musikschulen, in denen ich arbeite, die „Raduga/ Regenbogen“ Musikschule hat ein Konzert zu diesem Anlaß veranstaltet. Es gab sie natürlich an allen Plätzen der Stadt und des ganzen Landes. Nach einer Schweigeminute kamen die Auftritte. Es war eine Mischung aus Klassik und ukrainischer Volksmusik, mit Volksinstrumenten, wie zum Beispiel der Bandura, entweder solistisch, oder meistens den Gesang begleitend, die Sänger allesamt in Volkstracht, meistens waren das kleine Mädchen und Buben. Meine Cellistinnen sind dem klassischen Repertoire treu geblieben und haben nicht in Tracht musiziert.

Julia, die Cellolehrerin der Raduga Musikschule ist in ihrem Fach die beste Pädagogin der Stadt. Ihre Schülerinnen haben eine einigermaßen solide Technik und eine gute musikalische Vorstellung. Da gibt es Perspektive! Ich bestelle bei Valentin, Kontrabassist in der Philharmonie und Professor am College, mit den Kindern der Raduga Schule ein zweites Mal arbeiten zu wollen. Valentin organisiert alle Kurse, die ich halte, in allen Musikschulen und im College. Aus Julias Klasse arbeite ich mit Anja, Andželina, Katja, Nikolj und Ljubomir. Die kleine, blauäugige und blondhaarige, erst fünfjährige, allersüßeste Andželina bringt jeden rum und aus der Fassung, so bezaubernd und lebendig ist sie. Mehr Charme ist nicht möglich! Es kann auf dieser Welt niemanden geben, der/die sie nicht gleich einpacken und mitnehmen wollen würde. Sie schielt nach innen, beständig und nicht wenig, hat ein permanentes Lächeln auf den Lippen, ist äußerst temperamentvoll, wir verstehen uns sofort, schlagen mit beiden Händen ein, daß es nur so klatscht - das gefällt ihr so gut, daß sie immer weitermachen will. Nebenbei erwähnt, gibt es hier in der Ukraine noch keine von der Überzivilisation geförderten Berührungsängste, man darf die Kinder noch angreifen, ihnen die Hände führen, wenn man sie pädagogisch anleiten möchte. Julia ist wie eine Mama zu ihren Schülerinnen und hält ihnen die Händchen. Bei jeder der jüngeren denkt man, sie seien ihre Töchter. Sobald es losgeht, ist Andželina zutiefst konzentriert, macht keinen Mucks mehr, und rasend schnelle Fortschritte. Ganz gierig ist sie, Neues zu erhaschen und zu erlernen. Sie spielt erst seit einem halben Jahr. Egal, was auch immer ich ihr zeige, es gelingt sofort. 

Gegenüber der Philharmonie ist jeden Morgen ein Bauernmarkt. Mein Frühstück ist immer ein Kipferl, ein Kaffee, frische Erdbeeren und frische, unbearbeitete Milch, die die Bauern auf den Markt bringen. Sie sitzen auf der Straße einfach am Boden, bieten ihre Waren feil, Milch, Eier von ursprünglichen Hühnerrassen, ganze, gerupfte, ausgenommene Hühner, schon für das Backrohr vorbereitet, Käse, Würste, derzeit eben viele Erdbeeren, prächtigste Blumen aller Art, natürlich auch Pfingstrosen, besonders entzückend die zahlreichen, gebundenen, sehr üppigen Wiesensträuße, entweder nur Margeriten, oder gemischte Sträuße mit Margeriten, Glockenblumen, Wiesennelken und manch anderen Arten.
Bei all dieser Idylle merkt man dennoch auf Schritt und Tritt, daß man sich in einer vom Krieg geprägten und geplagten Gesellschaft befindet, wenngleich einem in diesem Landesteil die Bomben nicht alltäglich auf den Kopf fallen. 

Meine Seminare gehen hier weiter. Die meisten Kinder haben jeden zweiten Tag bei mir Unterricht, die älteren jeden Tag. Dazwischen üben sie und bereiten die nächste Stunde vor. Sie werden immer eifriger, sind froh und dankbar über die gelieferte Information, sprechen schon vom nächsten Jahr. Am Abend sende ich ihnen aus der Philharmonie per E-Mail neue Noten. 
Am wenigsten Freude habe ich mit den Studentinnen im College (aus der Klasse von Kateryna Zabielina) Katja, Saša und Sonja. Letztere ausgenommen, haben sie so wenig Ahnung von der Musik und vom Cellospiel - Katja und Saša sind bestimmt schon 18 Jahre alt, daß ich mich wirklich wundern muß. Alles muß ich ihnen erklären, bei Adam und Eva angefangen. Es ist mühsam. Doch schon in der ersten Stunde schließe ich sie ins Herz, weil sie die Gunst der Stunde erkennen und berührend dankbar sind. Sie fragen mich nach jeder Stunde, ob sie wieder eine Stunde haben können. Ich entgegne, gerne, doch sie müßten Valentin fragen, er organisiere den Kurs. Davon machen sie reichlich Gebrauch, haben jeden Tag Unterricht und machen enorme Fortschritte. 
Bei der vierzehnjährige Sonja jedoch verhält es sich ganz anders; sie hat ihre Grundlage bei Julia aus der Raduga Schule erhalten. Wir beide machen riesige Fortschritte, jeden Tag hat sie Unterricht, folgt mir vom College bis in ihre frühere Raduga Schule, damit sie noch eine Stunde erhaschen kann. Sie hat eine Perspektive. Ich bleibe mir ihr im Kontakt und werde ihr aus Deutschland Noten schicken, wann immer sie neue braucht. Am letzten Tag gesellt sich auch ihre Lehrerin Kateryna Zabielina zu uns. 

Morgen fahre ich in der Früh mit einem lokalen Omnibus nach Kamjanec Podiljskij, in Juras Geburtsstadt. Ich arbeite dort in seiner Musikschule, in die er als Kind ging. Wir haben dort schon zwei Mal ein Konzert gespielt, 2017 und 2019, ich habe damals seine erste Klavierlehrerin kennengelernt, ebenso deren Tochter Anja, die die Musikschuldirektorin ist. Der sehr nette, stellvertretende Direktor übt sein Amt nicht mehr aus, weil er leidergottes zur Front eingezogen wurde.
Kamjanec Podiljskij ist eine prächtige Stadt, geprägt vom Mäander des Flusses Smotrič, an die 100 Meter tief eingeschnitten in den Kalkstein der podolischen Platte. Einer dieser Mäander umschließt einen großen Umlaufberg, auf dem mit Unterstützung von Befestigungsmauern die Altstadt errichtet wurde. Der Zugang zu dieser strategisch so günstig gelegenen Stadt wurde zusätzlich durch den Bau einer Festung gesichert. Am Zenit seiner Macht, gehörte 1672 bis 1699 die Stadt zum Osmanischen Reich. Davon zeugt ein zu einer barocken Mariensäule umgestaltetes, aber als solches noch erkennbares Minarett mitten am Rynok, ukrainisch für Marktplatz. 

Mein touristischer Aufenthalt in Lemberg von Montag bis Mittwoch wird wohl keiner werden, zumindest nicht ausschließlich, da schon daran gearbeitet wird, daß ich ein weiteres Seminar an der dortigen Krušelnicka Schule für Musiktalente halte, einer ähnlichen Institution wie die Spezialschule für Musiktalente in Ćuprija, Serbien. Bischof Volodymyr von der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, den ich dieses Mal leider wieder nicht kennenlernen werde - er ist auf einer Mission in Deutschland und Österreich - hat die Angelegenheit schon an einen der Patres des Priesterseminars delegiert. Ich darf die drei Tage dort zu Gast sein. Ich hoffe, Volodymyr beim nächsten Mal kennenzulernen.
Soweit meine Schilderung für heute! 

Dein Wiesel



                                                             Gut Hornegg, am Freitag, 24. Mai

Danke mein liebes Wieselchen für Deinen schönen Bericht. Es klingt alles wie eine traurig-romantisches Märchen.
Ich kann mir die Bauern am Markt so gut vorstellen und ihre Gesichter. Möchte auch mir ihnen sitzen.
Fein, dass Volodymyr so gut auf Dich schaut. Und gut, dass er raus kommt aus der Stadt und hoffentlich ein wenig neue Energie tanken kann.

Sei fest umarmt,

Deine Schwester C. 

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                                                         Gut Hornegg, am Samstag, 25. Mai 

Danke Wiesel, für Deine schönen und so berührenden Berichte!

In mir kommt da sofort der Gedanke hoch, dass es außer Musikschülern noch andere gibt, die auch einen Anstoß von außen brauchen könnten, um nicht zu verzagen. Vielleicht ist das etwas für mich für nächstes Jahr.

Ich freu mich auf Dein Kommen. 

Bussi Dein Heinrich (mein Bruder)



                                                          Chmeljnickij, am Samstag, 25. Mai 

Lieber Heiner! 

So ist es. Man braucht nur auf die Straße direkt vor der Philharmonie zu schauen, dann sieht man gleich die Bevölkerungsschicht, die jegliche Hilfe gebrauchen kann, eben abgesehen von den auch darbenden Musikschülern. Zum Beispiel die armen Bäuerlein, die sich jeden Tag in einem vollgestopften Kleinbus in die Stadt plagen, um am Asphalt sitzend uns schwitzend ihre paar Pflänzchen und Eier an den Mann zu bringen. Ich denke mir stets, daß sie vielleicht eine kleine Hütte ihr eigen nennen dürfen, aber keine Rente haben und so die wenigen Erzeugnisse verkaufen müssen, die auf ihren winzigen Grundstücken wachsen. So kommen sie über die Runden.
Heute Abend spielt hier in der Philharmonie das Symphonische Orchester von Chmeljnickij, in diesem prächtigen, akustisch perfekten Saal, unter einem polnischen Dirigenten, zuerst eine Komposition eines mir bisher noch nicht bekannten, ukrainischen Komponisten, danach Witold Lutosławskis Klavierkonzert und Schuberts C-Dur Sinfonie. Während ich hier in meinem Zimmer schreibe, lausche ich Lutosławskis unbändigen Klängen - gerade Generalprobe - und bin schon sehr gespannt! 
Doch nun muß ich schnell auf das College, um mit meinen Schülern zu arbeiten, die mir heute ein bißchen Zeit gelassen haben, um meinen Bericht fortzusetzen und noch einige Korrespondenz für colluvio zu erledigen...
Schick mir bitte die E-Mailadresse von Konscht (mein 17-jähriger Neffe Konstantin). Ich möchte auch ihm "Von fremden Menschen und Ländern" berichten. 

Bis bald wieder! 

Dein Wiesel 

 

                                                       Gut Hornegg, am Samstag, 25. Mai 

Lieber Meinhard!

Danke für Deine umfassenden Berichte, die ich allesamt mit Interesse gelesen habe. Du wirst noch zum Schriftsteller und solltest diese Seite Deiner Anlagen weiter pflegen, denn was Du schreibst, ist interessant.
Da Dich meine Post ganz offenbar in einem kriegsgebeutelten Land erreicht nun eine rasche Antwort auf Deinen interessanten Bericht. 
Da lebst Du jetzt in einer anderen Welt und musst erfahren, wie es dort eigentlich zugeht und in was für einem friedlichen Luxus und Wohlergehen wir leben dürfen. 
Hier gibt es ständig kleinere und mittlere Skandale wie z.B. jetzt bei den Grünen mit ihrer 23 jährigen, unreifen Spitzenkandidatin für die EU-Wahl am 9. Juli, aber keinen Krieg. 
So traurig es ist, aber irgendwie sehe ich Dich fast als privilegiert an, dass Du jetzt diese Wirklichkeit erleben kannst. Und Du trägst dazu bei, dass sich die Erwachsenen und Kinder, die dort leben müssen, nicht ganz von Europa verlassen fühlen.
Ich kann mir vorstellen, dass es Dir große Freude macht, diese talentierten und lernfreudigen Kinder, die Du dort unterrichtest, jeden Tag aufs Neue zu sehen und mit deren Eltern und Lehrern, die Du dadurch ein bißchen entlasten kannst, freundschaftliche Bande zu knüpfen. Man muss nicht immer im Luxus schwelgen, um Freude zu haben, ein Erleben und Mitleben von und mit solchen Menschen ist wahrscheinlich viel beglückender, als das andere. Du hast da ganz recht und bist ein Mensch von Format.

Freue mich auf Deine Rückkehr, wünsche Dir viel Glück und dass Du hoffentlich keine Probleme bei Deiner Reise bekommst.

Alles Liebe,

Dein Papa


                                                          Chmeljnickij, am Samstag, 25. Mai

Lieber Papa! 

Danke für Deine anerkennenden Worte! So wie Du es beschreibst, wird mein Sein und Wirken hier wahrgenommen. Schon alleine als Symbol. Darüber hinaus bewirkt es etwas.
Schriftstellerisches Talent habe ich keines - es IST einfach interessant, was man hier alltäglich, -stündlich erlebt. Man muß sich nur hinsetzen und niederschreiben, was einem einfach unterkommt. Phantasie und Begabung braucht man keine.
Nun noch kurz vor dem Schlafen und dem morgigen Tag in Kamenec Podoljskij weitere Erlebnisse des heutigen Tages. Morgen früh nehme ich einen Linienbus dorthin.
Das heutige Konzert war ein Erlebnis. Besonders interessant und ergreifend, Lutosławskis Klavierkonzert. Schuberts C-Dur Sinfonie war ein sinfonisches Erlebnis, strahlend und breit angelegt, den Wünschen und Absichten des Komponisten gerecht werdend. Das Orchester spielt auf einem sehr hohen Niveau. 
Taras, der Direktor der Philharmonie hat wieder seine Angst geäußert, daß seine Musiker eingezogen werden. Auslandstourneen gab es nur früher, jetzt würden die männlichen Mitglieder im Ausland absteigen. Auch nach diesem Szenario müßte er die Philharmonie schließen. 
So haben alle hier Angst vor dem Krieg, Angst vor der nahen und ferneren Zukunft. Diese Furcht bekomme ich alltäglich zu spüren, ein völlig neues Gefühl für mich, wenn Angst vor der Ungewißheit das tägliche Leben prägt.

Jura hat mich mit seinen Freunden Viktor, dem Direktor des College und mit dem Klavierstimmer Saša verbunden. Damit ich an den Abenden in Gesellschaft und nicht so alleine bin. Das bin ich keineswegs, denn ich verarbeite ja stets all die Eindrücke und schreibe an den Abenden Briefe in die Ferne.
Bombenalarme durch Sirenengeheul gibt es hier jeden Tag mehrmals. Viktor frage ich über den Hintergrund, warum die Menschen nicht in die Luftschutzkeller verschwinden. Er sagt mir, daß die Mobiltelefone anzeigen, ob eine Rakete auf Charkiv, Chmeljnickij, Odessa... fliegt, daß die Sirenen jedoch jeweils landesweit heulen. So zittert man bei jedem Angriff mit, auch wenn er nicht der eigenen Stadt gilt. Ich besitze kein Smartphone und kann bei Bombenalarm mein Verhalten nur aus dem meiner Mitmenschen auf der Straße schließen, ganz wie die armen Bäuerlein vom Markt.
Viktor erzählt mir weiters, er sei heute von einem Treffen im Ministerium gekommen und habe erfahren, daß ab kommenden Schuljahr die Schulen und Universitäten schon einen Monat früher, also Anfang August beginnen werden. Denn die Prognosen lauten, daß im nächsten Winter die russischen Angriffe auf die Infrastruktur der Ukraine so stark sein werden, daß es zu dieser Jahreszeit unmöglich sein wird, den Schulbetrieb aufrecht zu erhalten. Also Schule im Sommer, und depressives Zittern im Winter, das sind die Aussichten. 

Nach dem Konzert lädt mich der Klavierstimmer Saša zu sich nach Hause ein, bekocht mich, wir unterhalten uns blendend. Dank meines nun schon mehrtägigen Seminars, habe ich erstmals seit dem Erlernen Praxis in der russischen Sprache bekommen; ich kann mich mit Saša einen Abend lang unterhalten. Das wäre vor einer Woche noch nicht möglich gewesen. Es freut mich sehr, denn ich mache Fortschritte in der Sprache, die ich vor dem 24.2.2022 zu lernen begonnen habe, und ich verstehe auch das Ukrainische jeden Tag ein wenig besser.
Saša bewegt sich ausschließlich mit dem Auto durch die Stadt, in einem alten Audi, Baujahr 1999. So fassen ihn die Polizisten nicht, um ihn zur Armee zu schicken. Autos werden nicht angehalten, meint er, aber Fußgänger schon, und gleich an die Front geschickt. (So ist es Juras Bruder vor einigen Monaten in seiner Geburtsstadt Kamjanec Podiljskij ergangen. Seitdem dient er in der Armee.) Saša fährt mich mit dem Auto zu sich nach Hause. Wir haben dort zwei Gläser Wein getrunken, so begleitet und führt er mich auf dem halbstündigen Rückmarsch zur Philharmonie durch kaum beleuchtete oder ganz dunkle Gassen, über Hinterhöfe, Parks, entlang an Bahndämmen, einfach dort, wo es für ihn nicht so gefährlich ist. Er will halt mit seinen 57 Jahren nicht zur Armee. Wir verabschieden uns an der etwas versteckten Rückseite der Philharmonie, bei der Portierloge, also beim Künstlereingang. Und ich habe das Gefühl, einen Freund gewonnen zu haben. Er ist sehr sympathisch. Ich kenne ihn seit heute. Als er vor fünf Jahren in unser Konzert in die Philharmonie kam, hat ihn mir Jura wohl vorgestellt, ich konnte mich aber jetzt nur an sein Gesicht erinnern.  

Schlaf gut und Gute Nacht! 

Dein Meinhard 

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                                                    Im Zug, Sonntag, 26. Mai                              

Liebe Caroline! 

Vielen Dank für Deine lieben Zeilen aus dem fernen und ebenso idyllischen Schottland!
Ich sitze schon im Zug nach Lemberg. Fast alle Züge sind auch tagsüber Liegewaggons, mit Bettwäsche, man kann jeweils selbst entscheiden, ob man die Betten hochklappen und sitzen oder eben liegen will. Daran sieht man, wie groß das Land ist. So kommt man bei einer Fahrt nach Kiev schnell in die Nacht und ruht gerne.
Jetzt schreibe ich Dir meine gestrigen, mannigfaltigen Eindrücke.
Am Morgen beginnt meine Reise ins südlich von Chmeljnickij gelegene Kamjanec Podiljskij, einer beeindruckenden Stadt von ungefähr 80.000 Einwohnern. Sie war früher bis ins 19. Jahrhundert das wichtige kulturelle und wirtschaftliche Zentrum, bis eben das damals noch völlig unbedeutende Chmeljnickij Kamjanec den Rang streitig machte, weil ersteres sich plötzlich an den Hauptverkehrswegen wiedergefunden hat, Bahnknoten und Industriestadt wurde. Kamjanec Podiljskij hat heute den melancholischen Charme einer vergessenen Stadt. 

Der Weg, nicht die Staße, führt über das idyllisch gewellte Podolien. Man kann sich die Landschaft wie die Oststeiermark oder wie Niederbayern vorstellen, nur viel größer, weitläufiger, eine heute sehr abgelegene, rückständige Gegend; man sieht kaum einmal ein Dorf, nie einzelne Häuser wie bei uns, jedoch so weit das Auge reicht, prächtige, fruchtbarste Äcker in vollem Saft, zwischen den Äckern viele Hecken und Baumreihen, die das Auge milde stimmen. An den wenigen Wegkreuzungen wird man mit Blicken auf endlose Alleen belohnt. Das ist wohl so, wie Du es mir immer wieder aus Ostpreußen geschildert hast. 
Dann führt der Weg durch dichte, ewige Urwälder. Man kann sich vorstellen, daß einem jeden Moment ein Wisent aus seiner ureigensten Behausung entgegenspringt. Die Menschen sind arm hier, die Natur feiert gerade deswegen fröhliche Urständ. Alle Generationen wissen also, was zu tun und vor allem zu lassen ist, damit uns das Wichtigste auf unserer Erde erhalten bleibt. 

Eine wahre Labsal ist die Vegetation hier. Alleen allenthalben, auch in Städten; die Industriestadt Chmeljnickij ist sicher sehr schmutzig, Abgase entweichen ungefiltert von Fabriken und Verkehr. Man atmet jedoch tief und gerne hier, weil das omnipräsente Grün die Luft so frisch macht. Am Land ist so gut wie jede Straße eine Allee, jeder Bahndamm ist ein undurchdringbares Dickicht - von Hecken kann man wegen des Durchmessers und der Höhe nicht mehr sprechen.
Wenn man durch die riesige Ukraine reist, mit ihren endlosen, vor fruchtbarster Schwarzerde nur so strotzenden Äckern, ist man sich gewiß, daß Europa, oder gar die Welt nicht verhungern kann. Je weiter man nach Osten fährt, desto mehr erhärtet sich dieser Eindruck. Es ist endlos, Dimensionen, die wir nicht kennen. 

Unsere Straße nach Süden, die diese Bezeichnung nicht verdient, nimmt wohl eine breite Trasse ein. Unsere Маршрутка - Maršrutka, ein kleiner 24-sitziger Bus, innen mit volkstümlichen Motiven reich ausgeschmückt, wird arg gebeutelt, wir mitreisenden Passagiere nebst Eiern, Käse, Gemüse, Erdbeeren und sonstigen landwirtschaftlichen Erzeugnissen mit ihr. Die kleinen Maršrutkas sind die in der Ukraine sicherlich die Hauptverkehrsmittel, über Land wie in den Städten. Man sitzt dicht an dicht, manchmal fast übereinander. Auch Jura und ich sind auf unseren Tourneen teilweise mit Maršrutkas gereist. Nach der Erfahrung der ersten Tournee habe ich mir deswegen einen besonders stabilen Cellokasten gekauft.
Schon vor sieben Jahren hat ein kleiner Bus der Philharmonie Jura und mich zum Konzert nach Kamjanec geführt, wir waren zu fünft, neben dem Chauffeur der Organisator und die stets übliche Moderatorin, es gibt keine gedruckten Konzertprogramme. Die Vorhänge waren damals zu, wir saßen im Kreis und tranken Tee. Die Fahrt war auch endlos, wir waren aber im Gespräch vertieft. Es rumpelte etwas weniger, denn seither haben sieben frostige Winter der Straße weiter zugesetzt. 

Die Strecke ist nur 80 Kilometer lang, die Fahrt dauert zweieinhalb Stunden. Anfangs rast und rattert der Chauffeur die Straße noch mit 70 bis 80 Stundenkilometern entlang, die einen wie 140 wähnen. Es rumpelt und ruckelt so stark, daß man gerne von jeglicher Lektüre läßt, sich konzentrieren muß, daß einem das Wohlbefinden nicht abhanden kommt. Nach einer Zeit kommt die ersehnte Verschnaufpause für die bislang schonungslos strapazierten Stoßdämpfer und Reifen, den Vulkanisatoren und Automechaniker wird hierzulande die Arbeit nicht ausgehen. Je weiter man nach Süden kommt, desto schmäler wird der Asphaltstreifen auf der breiten Trasse, oder das, was von ihm noch übrig ist. Ich kämpfe mich langsam bis zur ersten Reihe vor, komme neben dem Fahrer zu sitzen und sehe ihm die Qual der Wahl an, entweder auf Asphaltresten oder auf den nun mit diesen immer mehr konkurrierenden, beidseitig verlaufenden Schotterbahnen zu voranzurudern. Es ist ein endloser Kompromiß, denn die Straße wurde ewig geflickt, nie erneuert, die Krater im Asphalt werden derart tief, daß man nur auf den Schotter ausweichen kann. Irgendwann hört der Asphalt auf und man freut sich über die nun etwas sanftere Alternative der schottrigen Piste. Jetzt kann man sich endlich vorstellen, daß Leopold, Wolfgang und Nannerl Mozart auf ihrer Fahrt mit der Postkutsche von Salzburg über München und Augsburg bis Paris doch komponieren konnten, ohne daß ihnen die Feder oder die Tinte auskam.

Noch zu Beginn der Fahrt sind alle Plätze ausgebucht, meiner ist in der letzten Reihe, ohne Sicht, weil alles abgedunkelt ist, damit einen die Sonne nicht verbrennt. Es steigen dennoch immer mehr Reisende zu, stehen bald dicht gedrängt im Gang, es gibt keine Stationen, jedes Großmütterchen wird vom Wegesrand samt ihrer Marktware aufgelesen, sie muß nicht einmal die Hand heben. (Ein gutes Zubrot für den sympathischen Fahrer, denke ich mir, das ich ihm gerne vergönne.) Ebenso kann man jederzeit aussteigen, ein Wort genügt, und der Bus hält vor der eigenen Haustür. So wird es langsam wieder lichter und ich bekomme endlich einen Platz in der ersten Reihe, mit Panoramaposition. Jetzt erst sehe ich so richtig das Dilemma des Fahrers, stets aufs neue zu entscheiden zwischen Asphalt und Römerstraße. Ich komme mit ihm ins Gespräch, er schmunzelt und meint, daß es bei uns gewiß keine solch armseligen Landstraßen und solch elendigen Busse gäbe.
Die vielen Hühner und Gänse am Wegesrand machen einen glücklichen Eindruck. Ebenso müssen ihre Eier schmecken. Ich habe keine einzige Siedlung zwischen Chmeljnickij und Kamjanec Podoljskij gesehen, ein einziges Mal eine Ansammlung von riesigen Silos, irgendwo muß das viele Korn ja eingestampft werden. Man fragt sich stets, wie die Bauern zu ihren Äckern kommen, wenn man nie Dörfer sieht.
Die Stadt Kamjanec beginnt ganz ohne Ankündigung, am Rain des ersten Stadthauses hütet noch ein Junge seine Ziegen, von denen uns eine in den Weg springt, dann wird es jäh städtisch. 

Anja, die Direktorin der Musikschule, erwartet mich am Busbahnhof. Ich erkenne sie sofort wieder, sie ist eine Schönheit, sticht durch ihre elegante Erscheinung von den Passagieren hervor.
Wir gehen zu Fuß zu ihrer Musikschule, in einem Villenviertel außerhalb der zauberhaften Altstadt gelegen. Ich werde mit Бутерброт "Butterbrot", so heißen hier belegte Brote, Saft, Kaffee, Tee empfangen. Wir tauschen uns über die Neuigkeiten der letzten fünf Jahre aus, denken an Jura, unseren gemeinsamen Freund, der als Kind hier bei Anjas Mama Klavier gelernt hat; sie arbeitet noch immer hier. Mit Jura durfte ich schon zwei Mal hier vor einem zauberhaften, herzzerreißend mitfühlenden und dankerfüllten Publikum auftreten. Es bleibt mir ewig in Erinnerung! 

Damals hatten wir eine unvergeßliche Führung durch die stark von der polnisch-litauischen Adelsrepublik geprägten Stadt, beispielsweise waren alle Musikschuldirektoren Polen, wie man an den Namen und Gedenktafeln sieht, bis 1945 Polen auf Stalins Geheiß umgeklappt und die polnische Bevölkerung vertrieben wurde. Auch unser damaliger Stadtführer, Saša, Juras Schulfreund ist polnischer Abkunft. Man weiß nicht, was mit ihm ist, denn er wurde mit 58 Jahren auf der Straße aufgegabelt und dient bei der Armee, so wie Juras Bruder, eine Schicksal, das täglich immer mehr Männer ereilt. Jeden kann es treffen, auch kurz vor dem 60. Geburtstag. Männer von 18-60 Jahren dürfen derzeit nicht außer Landes, außer sie sind Lastwagenfahrer oder haben eine andere Funktion, die sie vor dem Einzug bewahrt. 

Anja hat eine Stadtführung geplant, doch wird trotz azurfarbenem Postkartenhimmel nichts daraus; nur durch meine Abreise kann meine hiesige Mission unterbrochen werden, so notwendig ist sie. - Es gibt zwei Cellolehrerinnen hier, eine davon eine Armenierin, eine ältere, vornehme Dame, die in Jerevan bei Levon Grigorjan, dem Vater meines Professors David Grigorjan studiert hat. Levon Grigorjan war ein berühmter Cellopädagoge zur Zeit der Sowjetunion. Seine Lehrwerke werden in Rußland noch heute gedruckt und auch überall sonst als Unterrichtsmittel herangezogen.


Es ist wirklich ein zu Herzen gehender Jammer. Man sagt mir, hier sei alles rückläufig - von den insgesamt fünf Celloschülern, die hier lernen, werden mir zwei vorgestellt. Beide haben ganz schreckliche Instrumente und Bögen, beide sind sehr musikalisch, können aber nichts. Zuerst kommt Viktoria, ein sehr interessiertes, sympathisches, etwa neunjähriges Mädchen, das zu Glück erst im zweiten Jahr lernt. So ist die Zukunft noch nicht so verbaut, wir können schnell alte, kontraproduktive Angewohnheiten ablegen, durch neue, eine Perspektive versprechende ersetzen. Zuerst zeige ich Übung um Übung, für die Ökonomie der linken Hand, für deren Geschicklichkeit und Geschwindigkeit, für Lagenwechsel, für Vibrato. Viktoria ist sehr klug, durchschaut sofort ihre Lage und worauf ich hinaus will, wiederholt ungefragt alle Übungen, erklärt, wozu sie dienen, wohin sie sie führen. Als wir endlich zu kurzen, einfachen, melodischen Etüden kommen, die ich ihr erst einmal vorspiele, ruft sie langgezogen "Prekrasno!" aus, was hier wunderschön bedeutet, beim zweiten Mal singt sie schon fehlerfrei mit, will gar nicht mehr aufhören zu singen, bewegt sich mit, zeigt einen erfüllten Gesichtsausdruck, singt immer weiter und weiter, innig wie eine Sennerin auf der Alm. Ich muß hier im Zug die Tränen zurückhalten, während ich Dir das schreibe; es gelingt mir nur halbwegs.  

Viktorias Cello ist fast unspielbar, kann nicht klingen, tönt und summt wie das Innere eines Bienenhauses, denn der Stimmstock im Celloinneren ist fast umgefallen, steht ganz schief, und am falschen Platz. Ich kann vieles an den Instrumenten richten. Aber um Stimmstöcke richtig zu setzen, braucht es einen Geigenbauer. Man sagt mir, wie übrigens auch in Chmeljnickij, daß es keinen in der Stadt gäbe. Das heißt, die Instrumente sind dem schleichenden Verfall preisgegeben! Was würde mein caritativer Geigenbauer Willi aus München dazu sagen?! 

Die gütigen und verständnisvollen Lehrerinnen hören geduldig zu, die Stunde mit dem Burschen dauert wahrscheinlich an die vier Stunden. Der heißt Volodymyr, Volodija, Vova, ist 17, sehr wohlerzogen, endlos geduldig und zielstrebig, macht aber alles verkehrt, verdrehter als man es sich nicht vorstellen kann. Der Wille wird ihn jedoch Berge versetzen lassen in seinem Leben, das ist gewiß. Er lacht und sagt schon selbst "Beton", wenn ich ihn wieder einmal, wie unzählbar oft davor auf seine kontraproduktiven Angewohnheiten hinweise. Davor hat er mir sein Programm für die Aufnahmeprüfung an der Musikakademie Kiev vorgespielt, doch ich muß ihm und seiner Lehrerin sagen, daß mein Kommen hier her nur einen Sinn hat, wenn wir uns jetzt an die Lösung von Basisproblemen machen, und sie beide ohne mich, parallel zu dieser Arbeit das Programm für die Aufnahmeprüfung Ende Juni üben. 
Anja weicht auch nicht mehr von uns. Es schaut niemand von uns auf die Uhr. Bis zum Ende der Mammutstunde bleiben alle konstruktiv, erfassen die Situation, sind sehr betroffen, doch willig, die Steine aus dem Weg zu räumen. Am Ende, schon vor der Musikschule, sage ich ihm, seiner berührend kultivierten armenischen Lehrerin und Anja, ich könnte ihm bei all der fachlichen Beratung nicht raten, Musik zu studieren; sage ihm, daß ich auch meinen pädagogisch verwöhnten Schülern das nie rate, daß jedoch immer die diesen Weg gehen, die nicht auf mich hören; dann sei es auch der richtige Weg für sie. Ich sage ihm, man könne nicht in einer einzigen Stunde das ganze Fundament besprechen, wofür meine Schüler in München viele Jahre brauchen, daß es schade sei, daß er schon 18 sei und nicht außer Landes dürfe, um mit mir in München zu arbeiten, daß er sich im Lande umschauen sollte, nach einem Pädagogen, der ihm helfen könnte. Ich empfehle ihm Vanja in Kiev, Ivan Kučer, dessen Seminar ich erstmals 2006 in Kragujevac, Serbien verfolgen durfte (Damals habe ich auch unseren Jura kennengelernt.). Er unterbricht mich fast, sagt, er wolle und könne nach München kommen, er werde ja erst im März 18. Er war sehr erfreut, als ich ihm angeboten habe, er könne ab sofort, in regelmäßigen Abständen nach München reisen, etwa drei Wochen mit mir und zwischen den Stunden alleine üben; ich würde ihn bei mir zuhause aufnehmen, ihn mit meinen ihm gleichaltrigen Schülern verbinden, damit er Abwechslung hätte; sie mögen ihm die Stadt zeigen. Und zum letzten Male möge er im März nach München kommen - wenn bis dahin der Krieg nicht aus sei, solle er gleich bei uns bleiben. 
Ich habe es gewagt, so einen Gedanken vorwegzunehmen. Denn mir haben hier viele direkt oder indirekt anvertraut, daß sie nach Wegen suchen, der Einberufung zu entgehen. Dazu müßten sie den Beruf wechseln, zum Beispiel werden Pädagogen nicht eingezogen. Auch erwägen manche gar das Land zu verlassen, weil sie nicht zur Armee wollen, nicht wie ein wehrloses Lamm geschlachtet werden wollen.
Ich werde von Anja, Vova und seiner armenischen Lehrerin zum Busbahnhof eskortiert, wir verabschieden uns herzlich und wohl etwas wehmütig. 

Auf der Rückreise nach Norden, sehe ich, daß der Bus, eine parallel zum Rumpelpfad führende, bestens intakte Straße nimmt. Es sind natürlich nicht alle Straßen gleich in der Ukraine, und dem Chauffeur bei der Herfahrt habe ich auch unrecht getan. Er hat sich nichts dazuverdient, sondern die armen Bäuerlein haben keine andere Möglichkeit, als unterwegs aufgelesen zu werden; sie haben ja selbst keine Fahrzeuge. Sie müssen manchmal in die Stadt, gehen zu Fuß bis zur Trasse, der der Bus entlangrumpelt. Sie sind die Kundschaft der Busfahrer. 

Taras, der Direktor der Philharmonie holt mich vom Bus ab, meint, mein Plan mit dem Taxi zu fahren, hätte auch nicht gut ausgehen können. Ein Taxi zu bekommen, das sei abends recht ungewiß, denn viele Fahrer würden sich nicht mehr auf die Straßen trauen, aus Angst eingezogen zu werden. Viele Männer würden einfach nur rennen, wenn sie Uniformierte sähen. 

Nach meiner Ankunft schicke ich Viktoria und Vova, wie stets allen auf diesem Seminar, aus der Philharmonie per E-Mail Noten und Übungen, falle müde ins Bett, denn ich habe noch nie zuvor zwei so lange und anstrengende, jedoch erfüllte Stunden gehalten. Wie tief mein Schlaf in der vergangenen Nacht war, sieht man daran:
Als wir uns vor meiner Abfahrt noch auch einen Kaffee treffen, erkundigt sich Taras, wie ich geschlafen hätte. Bestens und sehr tief, meinte ich. - Ich habe die Sirenen und einen erfolgreich abgewehrten Drohnenangriff auf mein Viertel in Chmeljnickij verschlafen. Taras sagt, es sei um vier in der Früh gewesen, die Armee sei im ganzen Viertel aufmarschiert. Es wäre sehr laut gewesen, er wäre wach gelegen. 

Gerade kommen wir in Lemberg an und ich muß schließen. Gleich fahre ich ins Priesterseminar, in dem ich hier untergebracht bin. 

Alles Liebe und Gute! 

Sei geherzt und bis bald wieder,  

Dein Meinhard

                                                         Gut Hornegg, am Sonntag, 26. Mai 

Mein Wiesel, 

danke für diesen wunderschön beschreibenden Brief (an unsere liebe Caroline) über nur einen Tag aus dem Leben. Ganz faszinierend und so traurig gleichzeitig.
Bei uns ist alles in Ordnung. Muss viel an Dich denken, auch wie es Dir wohl emotional gehen muss.
Ich bin von Mittwochabend an (mit dem Auto) in Wien. Am Samstagabend gehen wir in die Josefstadt in die Premiere und danach oder am Sonntag früh fahre ich nach Hornegg. Wäre das auch für Dich ein Plan? Wann kommst Du in Wien an?
 

Viele Bussis und feste Umarmungen,
C
         
                                                                                                                                                    

                                                                 Lemberg, am Sonntag, 26. Mai 

(An meinen lieben Schüler Benedikt, zu seinem 17. Geburtstag, der als Siebenjähriger bei mir mit dem Cello begonnen hat. Wir arbeiten seit über zehn Jahren sehr fruchtbar zusammen. Es kann sich hören lassen!
Ihm sende ich den vorangegangenen Reisebericht an Caroline.)
 

Lieber Benedikt! 

Ich gratuliere Dir allerherzlichst zu Deinem 17. Geburtstag! So eine Freude, daß Du schon so groß bist!! Ich wünsche Dir alles erdenklich Gute, alle Deine Wünsche mögen in Erfüllung gehen, Du mögest viele prägende Erlebnisse haben, von denen ich das eine oder andere hoffentlich mit Dir teilen darf.
An solchen darf ich derzeit in Fülle teilhaben, und so sende ich Dir meine Eindrücke des heutigen Tages. Es ist ein Bericht an Caroline Bergius.
Ich schreibe hier jeden Tag Tagebuch und das lasse ich Dir bald zukommen. 

Liebe Grüße, 

Dein Meinhard

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                                                                      Im Zug, am Montag, 27. Mai

Lieber Meinhard, 

wow, wirklich tolle und berührende Sachen, die du da erlebst, das klingt wirklich sehr überwältigend! 
Ich sitze grad im Zug nach Brannenburg und werden zur Mittelstation des Wendelstein wandern, um dort bis Mittwoch mit jungen Leuten aus meiner Pfarrei Zeit zu verbringen. Gestern hatte ich einen tollen Tag, mit leckerem Essen, Fahrradtour und entspanntem Abend mit Freunden. Danke natürlich auch für die Glückwünsche und die lieben Worte.
 

Viel Spass noch in der Ukraine und bis bald, 

Dein Benedikt

                                                                                                                          
Lemberg, Sonntagabend, 26. Mai 

Liebe Caroline! 

Volodymyr Hruza, Weihbischof der Ukrainischen greko-katholischen Kirche ist ein guter Bekannter meiner Schwester Christiane und besonders unseres gemeinsamen Freundes Alois Kölbl, Pfarrer in der Leechkirche, der ältesten Kirche von Graz; ich freue mich schon auf unser baldiges, gemeinsames Konzert in der Leechkirche. Bischof Volodymyr wollte mich empfangen und im Zentrum der Stadt beherbergen, hat sich dann jedoch selbst auf eine Auslandsreise nach Deutschland und Österreich begeben. 
Er hat mich dann freundlicherweise an das Priesterseminar empfohlen, welches etwas außerhalb des Zentrums im Süden der Stadt liegt. 

Die Ukrainische greko-katholischen Kirche spielt eine große Rolle für die Bewahrung der ukrainischen Tradition, Kultur und Sprache, wie in früheren Zeiten, so auch sicherlich heute in der aktuellen Kriegslage. Man sollte daher ihre Geschichte kennen. Nach der Schlacht bei Tannenberg in Ostpreußen 1410, in der das polnisch-litauische Heer den deutschen Ritterorden geschlagen hat, breitete sich das polnisch-litauische Reich immer weiter nach Osten aus, bis über Kiev hinaus. Vierhundert Jahre hatte es Bestand, bis zu den drei polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts.
Die katholischen Polen stellten in der orthodoxen Ukraine jahrhundertelang die Oberschicht. Die Ukrainer strebten nach den gleichen Rechten und Privilegien wie die Polen, gingen daher Ende des 16. Jahrhundert die Kirchenunion von Brest ein. Dafür mußten sie nur den römischen Papst als Oberhaupt anerkennen, haben sich jedoch ausverhandelt, den orthodoxen Ritus zur Gänze und auch den julianischen Kalender beizubehalten. Mit anderen Worten, reine Formsache. Heute und auch schon in anderen Epochen sah und sieht diese Kirche in ihrer Sonderstellung einen Vorteil. Sie orientiert sich trotz ihrer orthodoxen Tradition und Praxis an der katholischen Kirche, politisch, nehme ich an, am Westen. Das wiederum entspricht der politischen Ausrichtung der gesamten Ukraine. 

Besonders in der Westukraine konnte sich die greko-katholische Kirche halten, weil sie unter der österreichischen Doppelmonarchie anerkannt war, wären sie im russischen Zarenreich verfolgt, verboten und mit der russisch-orthodoxen Kirche zwangsuniert wurde. Im österreichischen Kronland Galizien konnte sie sich frei entfalten, es blühte die von der greko-katholischen Kirche geförderte ukrainische Kultur und Sprache. Diese fruchtbare österreichische Periode dauerte von 1772 bis 1918. Danach, bis zum Zweiten Weltkrieg, wurde die greko-katholische Kirche sowohl vom wiedererstandenen Polen als auch von der eben gegründeten Sowjetunion unterdrückt. Sie wurde überall verboten, sobald die ganze Ukraine 1945 sowjetisch wurde.
Nach dem Fall des Kommunismus, 1991 wurde sie rehabilitiert, durfte wieder ihre Kirchen und Verwaltungssitze beziehen, neue wurden gegründet und gebaut, so auch im Jahr 2000 das Priesterseminar von Lemberg. 

Dort werde ich auf das herzlichste vom Prorektor otec (Vater/Pater) Mihajlo empfangen, der fließend Deutsch spricht, weil er vier Jahre lang in Innsbruck studiert hat. Erst speisen wir, dann weist er mir ein großzügiges und geräumiges Gemach an, mitten in der Stadt gelegen, doch ganz und gar ins Grüne blickend, in das viele Hektar große Stück Land. Man ist in der Stadt, kann doch bei offenem Fenster schlafen, es kühlt nach heißen Tagen fein ab - ich komme wieder! Ich fühle mich sehr wohl, nehme ein weiteres Angebot, ganz zentral im Gästeapartment der Krušelnicka Spezialschule für Musiktalente zu wohnen nicht an. Ich fühle mich privilegiert, überall herzlich als Gast aufgenommen zu sein; wie schon so oft geschehen, ist das vielleicht wieder auf meine Kenntnisse der jeweiligen Landessprache zurückzuführen, und sicherlich auch wegen meiner Mission hierzulande. Seit meiner Ankunft vor über einer Woche habe ich das Ukrainische viel gehört, verstehe mittlerweile recht viel und kann schon einiges sagen, mich etwas verständigen. 

Otec Mihajlo führt mich durch die Heilggeistkirche des Priesterseminars, die frühestens nach der Gründung des Seminars ab 2000 erbaut wurde. Wie bei neuen orthodoxen Kirchen üblich, ist die Ausgestaltung und Freskierung der Kirche ganz konservativ, an alten Vorbildern orientiert. Dabei entsteht selten ein Gottesraum, in dem man sich geborgen fühlt, der Spiritualität fördert, dieser ist ein gelungenes Beispiel. Die Freskierung wurde erst in den letzten Jahren ausgeführt, ist nicht ganz vollendet. An zwei Stellen stehen noch Gerüste, sie werden nicht abgebaut, denn der Frescomaler wurde quasi vom Gerüst heruntergeholt und zur Armee eingezogen, berichtet mir otec Mihajlo; und weiter, es gäbe im Lande derzeit niemanden, der ihn ersetzen könnte. 

Nach dem Abendessen lädt mich otec Mihajlo zur Abendvesper ein - ich lausche den herrlichen Gesängen, der Seminaristen, und der altkirchenslawischen Liturgiesprache, die sich die greko-katholische Kirche bewahrt hat. Daneben wird das Ukrainische gebraucht. Wie in allen orthodoxen Kirchen, wird auch hier nur a capella gesungen. Es wird den ganzen Gottesdienst kaum gesprochen, unablässig gesungen, es ist ein sehr lebendiger, unermüdlicher Dialog zwischen den Patres (besonders otac Mihajlo singt vollendet, Tenor) und den gegenüber hoch am Chor stehenden Seminaristen. Diese bilden einen Chor von ungefähr acht Sängern. Da alle Seminaristen während ihrer Ausbildung hier alles lernen müssen, gestalten nach einer Weile die nächsten acht Sänger den Gottesdienst, bis alle durch sind. 

Nach der Vesper weist otec Mihajlo den sehr gesprächigen und lebendigen Seminaristen Maksim an, mich durch das gesamte Priesterseminar samt umgebendem, weitläufigen Gelände zu führen. Das macht er meisterhaft. Er fängt auf ukrainisch an; nachdem ich ihm sage, er könne die Führung auch auf Englisch gestalten, daß ich auch Russisch verstünde, zögert er ein wenig, springt dann während der zweistündigen Führung abwechselnd zwischen Russisch (80%) und Englisch (20%) hin und her. Ich finde, er kann ganz gut Englisch, aber man ermüdet eben schnell, wenn einem eine Sprache noch neu ist.
Die Führung endet gegen 22.30 Uhr. Danach begeben wir uns gleich zu Bett, denn die Tage beginnen hier früh. 

An jedem meiner drei Tage im Priesterseminar gehe ich um sieben Uhr zur Morgenliturgie. Davor ist noch um sechs Uhr das Morgengebet, auch zu diesem bin ich eingeladen, doch es ist recht früh für mich, gestehe ich. Danach kommt das gemeinsame Frühstück aller ungefähr 10 Patres und 80 Seminaristen. Täglich bin ich neben den beiden Gottesdiensten zu allen drei Mahlzeiten eingeladen, ich bin jedoch nach dem Frühstück von früh bis spät in der Stadt. Diese ist so prächtig, daß sie besichtigt werden möchte. Darüber habe ich einiges in meinem Brief an Helgi erwähnt.
Eine rumpelige Straßenbahn führt mich jeden Tag ungefähr eine halbe Stunde lang vom Seminar in die Altstadt. Ich kenne keine Stadt, die so viel Kopfsteinpflaster mit alten, großen Steinen hat wie Lemberg. Man muß daher keine Zone Dreißig für den Autoverkehr einrichten, alle fahren im Kutschentempo, bedauerlicherweise auch die Straßenbahn, vielleicht weil die Schienen in den großen Pflastersteinen nicht so gut eingebettet sind.
An meinem ersten Tag in Lemberg besichtige ich alles, was mir unterkommt, einfach bis es dunkel ist, danach rumple ich ins Priesterseminar zurück. 

Alles Liebe und Gute! 

Dein Meinhard

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                                                                  Lemberg, am Montag, 27. Mai

Meine liebe Helgi!

Ich bin in der Ukraine, erzähle Dir später warum, doch mich treibt gerade um, daß ich Dir jetzt gleich und später noch viel ausführlicher über meine Reise in diesem wunderbaren Land berichten soll! Mein Bericht darüber setzt sich aus mehreren Briefen an meine Lieben in der fernen Heimat zusammen. Auch mein heutiger Brief ist Teil davon - Du wirst es sehen. Es wird ein Tagebuch daraus. 

Von weiter östlich in der Ukraine gelegenen Distrikten kommend, ist der Ausstieg in Lemberg ein majestätisches k&k Erlebnis - prächtig, historistisch, mit Elementen des Jugendstils versehen. Alleine die riesigen Wartehallen zeigen den hohen Rang einer bedeutenden Landeshauptstadt, der des Kronlandes Galizien an.
Ich bin auch in dieser Stadt zum Unterrichten engagiert, an der berühmten Krushelnytska Spezialschule für Musik doch ich habe nach all den wirklich verausgabenden pädagogischen Engagements weiter im Osten des Landes, nun endlich ein wenig Freizeit. Ich werde mich mit den Schilderungen über Sehenswertes knapp halten, möchte nur ein paar gute Worte für die Stadt einlegen (, wenngleich sie es nicht nötig hat), damit sich die Leser meines Tagebuches hoffentlich auch bald auf den Weg hierher machen. Glaub mir, es sind überhaupt keine Touristen da, ich bin alleine mit den Ukrainern. 

Lemberg ist heute eine Stadt mit einer Dreiviertel Million Einwohnern, die sehr große Altstadt steht in ihrer Gesamtheit unter UNESCO-Weltkulturerbe. Am besten ist, man kauft sich einen Dumont Reiseführer, denn es gibt enorm vieles zu bestaunen. Alles weitere, was der kunsthistorisch betonte Führer nicht bietet, wird man entdecken, wenn man Zeit mitbringt und langsam die Straßen entlangschlendert. Beispielsweise kleine, sympathische, geschmackvoll und dezent eingerichtete, hervorragende Restaurants, eher abseits von den typischen Touristenrouten. Ich kann zwei empfehlen, die ich entdeckt habe; ein kleines armenisches Restaurant, mit einem zauberhaften Gastgarten, ganz versteckt in einer kleinen Gasse, auf der Rückseite der armenischen Kirche, kurz vor der Lesy Ukrajinki Straße; noch zauberhafter und vor allem kulinarisch vorzüglich finde ich ein ganz kleines Restaurant am Ende der Starojevrejska ulica (also der Altjüdischen Straße), diese endet an der Halitska ulica (Galizische Straße), ich meine aber genau das andere Ende, also kurz vor der ehemaligen Synagoge, von der nur Reste stehen. Es ist das vorletzte Restaurant in dieser Straße, gleich vor dem letzten, großen trendigen Restaurant, das ich eher nicht empfehlen würde. Das Lokal heißt "Смачна галицька кухня", also "Schmackhafte galizische Küche". Es ist in der Staroevreiska vulitsa 50. 

Lemberg war vor der nicht einmal hundertfünfzig Jahre langen österreichischen Herrschaft vierhundert Jahre lang Teil des polnisch-litauischen Reiches. (Davor lag noch die Periode der Kiewer Rus.) So war die Bevölkerungsstruktur vor den wilden Völkermorden und Vertreibungen während des und nach dem Zweiten Weltkrieg (die dem Land sicherlich den ganzen Zauber genommen haben), wie auch andernorts in galizischen Städten bunt gemischt, hauptsächlich Polen, Juden, Ukrainer, Armenier. Heute sind es in erster Linie Ukrainer, nur noch wenige Armenier und Polen, und nach 1945 zugezogene Russen. Es ist wichtig, die alten Bevölkerungsstrukturen zu erwähnen, damit man die Geschichte, Bau- und Kunstgeschichte und letztlich den Flair der Stadt verstehen kann. Lemberg wirkt auf uns Österreicher und Deutsche in seiner Pracht und Ausstrahlung eher mitteleuropäisch.  

Exotisch mutet die Armenische Kirche an, ganz besonders wegen des Kontrasts der originalen armenischen Architektur aus dem 14. Jahrhundert und modernen polnischen Fresken aus der Zwischenkriegszeit. Diese sind sehr kunstfertig, farbenfroh, symbolträchtig und mysteriös. Die ganzen prächtigen Kirchen, Dome und Kathedralen möchte ich hier nicht aufzählen, nur anmerken, daß die meisten, auch die ehemalig polnischen und daher katholischen Kirchen heute von der ukrainischen greko-katholischen Kirche genutzt werden. Viele Kirchen dieser Glaubensrichtung wurden jedoch schon im Barock für greko-katholische Gottesdienste ausgestattet, haben also alle eine barocke Ikonostase. Sehr berührend sind diese Kirchen, volkstümlich und kunstfertig zugleich. 

Ansonsten möchte ich von allen zahlreichen Sehenswürdigkeiten nur noch den berühmten Litšakivski Friedhof (polnisch Łyczakowski Friedhof) erwähnen. Er will nicht enden, so scheint es einem, wenn man ihn durchstreift, ebenso überwältigt einen die landschaftliche Pracht der auf einem langgezogenen Abhang liegenden Anlage, und natürlich die prächtigen Grabmäler selbst. Ganz bemerkenswert ist die Tatsache, daß Christen aller Glaubensrichtungen hier nebeneinander beerdigt sind, oft wild durcheinander - Katholiken, ukrainische greko-katholische, ukrainische-orthodoxe, protestantische, armenisch-apostolische Christen. So kann man die Namen der Familien und die Grabinschriften in all diesen Sprachen lesen, auch in noch weiteren Sprachen übrigens. Man kann daran sehen, daß Europa in weiten Teilen multi-kulti war, daß daraus eine enorm bemerkenswerter und phantasiereicher Kulturraum entstanden ist, leider wurde nur der Brunnen vergiftet! Und das scheint heute allerlanden so weiterzugehen. Wehe unserer aller Kultur(en)! Das lehrt uns doch unsere Geschichte, die ich hier gerade auf Schritt und Tritt absorbiere.
Und natürlich sind auf dem Łyczakowski Friedhof alle, vielfach weltberühmte Persönlichkeiten von Lemberg begraben. Leider habe ich keine Zeit mehr, die jüdischen Friedhöfe zu besichtigen. 

Als dritte und letzte Sehenswürdigkeit möchte ich noch das österreichische Offizierscasino anführen. Das ist ein Gebäude von einer atemberaubenden und wirklich vereinnahmenden Eleganz! Man kann sich ihr nicht entziehen. Ohne ihn gekannt zu haben, bin ich fast stolz auf meinen Urgroßvater, der hier in Lemberg geboren und als hochrangiger k&k Offizier stationiert war. Ich kann mir nun so gut vorstellen, wie er hier Empfänge erlebt und gegeben hat, in seiner sicherlich grandiosen Welt gelebt hat, wenigstens vom Blick unseres nostalgischen Auges aus, habe bildhaft vor mir, daß auch unser Kaiser Franz Joseph, die elegante und majestätische Treppe hinab- und heraufgewandelt ist, um auf der ausladenden, aber dennoch zurückhaltenden und gar gemütlichen Terrasse einen Empfang zu geben. 
Also Lemberg bitte unbedingt besuchen und am besten drei Tage hier verbringen!
Ich hoffe, wir beide werden es gemeinsam machen, am besten mit Christiane!! 

Alles Liebe und Gute, und herzliche Umarmungen! 

Dein Meinhard 

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                                                                    Graz am Mittwoch, 29. Mai 

Lieber Meinhard! 

Du hast mir eine riesige Freude bereitet, mich in den Kreis der Leser Deines wunderbaren Tagebuches aufzunehmen. Schon bei Deinem ersten Bericht, der so faszinierend und einprägsam war, war mein Herz drauf und dran, mein Köfferchen zu packen und mich auf den Weg nach Lemberg zu begeben.
Du bist nicht nur ein Meister in der Welt der Musik, sondern auch ein Meister im Erfassen aller großen Zusammenhänge in Kunst, Kultur und Geschichte und darin, sie in Worte zu fassen und so wiederzugeben, dass Du auch den Laien wie mich, bereicherst und beglückst.
Ich danke Dir von ganzem Herzen und wünsche Dir weiterhin viel Erfolg und Kraft.  

Bussis und bis bald,

Deine Helgi                                                                                                                                         
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                                                                             Auf dem Schiff, 27. Mai 

Lieber Meinhard, 

Alles, was Du über Deinen Aufenthalt in Lemberg geschrieben hast, war so interessant. Ich danke Dir dafür. Ein bisschen hatte ich mich gewundert, wieso Du gerade im Priester Seminar unterkommen bist - aber heute früh kam die Antwort! 
Leider war ich noch nie in Lemberg, wohl aber ziemlich nah, in Zamość und in Košice. Ich bin sehr gespannt zu hören, ob die weitere Zugreise nach Wien über Krakow, evtl. Tatra oder Bratislava erfolgt. Auf alle Fälle, hoffe ich irgendwann in nicht zu ferner Zukunft Details dieser letzten Abschnitt Deines Abenteuers zu hören.
Jetzt wirst Du gerade im Zug sein und durch eine berauschend-schöne Landschaft fahren. Wir sind gerade auf dem Schiff von Uig in Skye nach Lochmaddy, North Uist unterwegs. Die Berge von Harris sind in großer Entfernung zu sehen, das Meer ruhig, der Himmel in „40 shades of grey„ und die Freude auf der kleinen Insel Berneray groß. 

Ganz liebe Grüße an alle Familienmitglieder, die Du demnächst siehst. Sie werden sich freuen, Dich wieder zu Hause in Hornegg zu haben.

Alles Liebe,

Caroline 

 

                                                               Lemberg, am Dienstag, 28. Mai 

Liebe Caroline! 

Ich berichte noch ein wenig weiter aus dem schönen Lemberg, das komplett verwaist von Touristen ist, doch keineswegs leergefegt. Ganz im Gegenteil, aus den Gebieten an der Front und jenseits davon haben sich ja so viele Flüchtlinge hier angesiedelt.
Heute bin ich schon kein Tourist mehr, wirst Du gleich sehen:
Am zweiten Lemberger Tag wandle ich nach dem Frühstück staunend durch den prominenten Litšakivski Friedhof, wie schon in dem Brief an Helgi beschrieben, gehe von dort etwa 20 Minuten und sehr gut gestimmt zur Krušelnicka Schule, weiß nicht, was auf mich zukommt, auf welchem Niveau dort gespielt wird, wie lange es dauern wird, welche Stücke mir vorgespielt werden, an welchen ich arbeiten soll.
Ich tat gut daran, nicht besorgt zu sein, denn die Arbeit war intensiv, die Atmosphäre wohlwollend.
Die Krushelnytska Spezialschule für Musiktalente ist ebenso wie ihr Pendant in Ćuprija, Serbien ein Musikinternat, für Kinder vom Schulanfang bis zur Matura. Hier genießen die besten jungen Musiker des Landes eine hervorragende und umfassende musikalische Ausbildung. 
Ich arbeite mit der 10. Klasse, also mit Sechzehnjährigen. Es handelt sich um einen Meisterkurs, auf einem ganz anderen Niveau als in Chmeljnickij und Kamjanec Podiljskij. (Die Kinder dort und vor allem ihr Schicksal liegen mir jedoch noch mehr am Herzen, wegen ihrer musikalisch vernachlässigten Lage bei gleichzeitiger Liebe zur Musik, doch auch, weil ich die Gelegenheit hatte, sie besser kennenzulernen.)
Gleich wie an den Orten zuvor erwartet mich die ganze Klasse, jetzt eben nur die 10., das sind fünf Cellistinnen, die mir vorspielen, Jana Kirmel, Justyna Dmytruk, Anastasiya Belezhynska, Olga Buchurska, Kseniia Poberezhna. Es sind noch weitere Studenten da, die nur zuhören. Ständig da sind die beiden Cellodozentinnen Nadia Kvyk und Olga Shutka, die Korrepetitorin Zenoviya Popko und der Korrepetitor Taras Seremulya. Irgendwann kommt auch der Direktor der Schule, Lev Zakopets kurz herein, stellt sich vor, überbringt Geschenke der Schule, tauscht Kontaktdaten aus. 

Wir arbeiten sehr intensiv und jeweils nur eine Stunde oder Dreiviertelstunde an einem Stück mit einer Kandidatin, dann kommt die nächste. Es wird nicht auf die Uhr geschaut, wieder hören alle allen zu. Immer nach dem ich das Ende der Stunde verkündet habe, erschallt herzlicher Applaus, der hoffentlich den hervorragenden Schülerinnen, fast Studentinnen gilt. Technisch haben alle ein solides Niveau, jedoch keine so differenzierte Technik und Klang wie meine Schüler in München. Der entscheidende Unterschied - sie üben viel mehr als meine guten Münchner Schäflein, genießen neben dem Hauptfach weiteren Unterricht in vielen Fächern wie Solfeggio, Tonsatz, Harmonielehre, Musikgeschichte, Orchester, Kammermusik...., und sie haben eine ganz andere Einstellung, wissen, daß sie Berufsmusiker werden wollen, befinden sich in einer inspirierenden Umgebung. Dadurch geht unsere Arbeit schnell voran, wenngleich sie alle noch sehr viel lernen müssen, sowohl in musikalischer Hinsicht als auch in technischer. 

Ich verstehe mich nicht als Meister, der Meisterkurse gibt, aber genau das wird von mir erwartet, so werde ich gesehen. Es werden mir auch Stücke vorgespielt, die ich nur vom Hören ein wenig oder gar nicht kenne, wie David Poppers Ungarische Rapsodie oder eine Solosonate von Paul Hindemith. Dank meiner jahrzehntelangen Arbeit mit den colluvio-Studenten, bin ich es gewohnt, unvorbereitet mir noch neue Werke zu unterrichten und gemeinsam mit den Studenten zu lernen. Aber hier hören alle zu, kennen die angeführten Werke viel besser als ich, Schüler, Studenten, Dozenten, Korrepetitoren. Dennoch werden meine Vorschläge sehr gerne angenommen und erfolgreich umgesetzt. Manchmal ist es gut, unbelastet auf ein neues Werk zuzugehen, und nicht aus Erfahrung zu schöpfen.
Es herrscht hier einfach insgesamt eine positive Stimmung, es ist ein sehr erfreuliches, unvergeßliches Ereignis. Die Studentinnen bedanken sich alle herzlich bei mir, die talentiertesten am meisten, heben hervor, wie viel sie gelernt haben, daß es ihnen viel bedeutet, daß ich gekommen bin. Die Dozentinnen schreiben mir tagsdarauf Dankesbriefe mit übereinstimmendem Inhalt. Der Direktor schreibt mir, er hätte große Hoffnung für unsere weitere fruchtbare und freundschaftliche Zusammenarbeit in der Zukunft. 

Leider laufen während meiner Zeit hier in der Oper keine Vorstellungen, so gehe ich in die Philharmonie. So sehr ich das Konzert genossen und mich über den Erfolg der Musiker gefreut habe, darf ich freudig anerkennend sagen, daß mir das Sinfonieorchester der proletarischen Stadt Chmeljnickij viel besser gefallen hat. Das war damals, vergangenen Freitag, im Gegensatz zu hier ein echtes und bewegenden symphonisches Ereignis! Dazu die viel schönere und größere Philharmonie mit der perfekten Akustik, in der sowjetischen Zeit, nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet. 

In der Konzertpause sehe ich vor dem Gebäude vier Konzertbesucher, alles junge Männer mit je einem amputierte Bein, bei zweien ragen nur noch Stummel hervor, das sieht man, weil sie kurze Hosen anhaben. Ihr Schicksal tragen sie mit Fassung, genießen, was das Leben bietet - diesen Eindruck hat man, wenn man in ihre lebendigen Gesichter blickt.
In der zweiten Hälfte des Konzerts ertönt Luftalarm. Ich denke schon, das Konzert muß abgebrochen werden und wir müssen in die Bunker verschwinden, doch schien die Rakete nicht auf Lemberg gesteuert worden zu sein. 

Auch ich bin gespannt, durch welche Landstriche mich der Zug von Przemyśl nach Wien führen wird. Sicher sind sie alle neu für mich. Ob es mir vergönnt sein wird, die verschneiten Gipfel der Hohen Tatra ein zweites Mal aus der Ferne zu bestaunen? 

Du bist bestimmt sehr froh, nach der schönen Überfahrt zwischen den Inseln der Äußeren Hebriden auf der heimatlichen Insel Berneray anzukommen. Ich würde sie eines Tages sehr gerne sehen. Vielleicht wenn ich nicht als Pädagoge, sondern als Koch zu euch auf die Insel komme, um all die hungrigen und jungen Mäuler der Teilnehmer an „Music on the Isles“ zu stopfen. 

Alles Liebe, 

Dein Meinhard

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                                                                         Gut Hornegg, am 28. Mai 

Lieber Meinhard! 

So eine Freude, die Du mir mit Deinen langen, zu Herzen gehenden Briefen gemacht hast! Wunderbare Erlebnisse, die Du nie vergessen wirst, die kaum jemand so spüren wird wie Du. Danke, dass Du uns teilhaben lässt!
Du müsstest mindestens  einen Orden bekommen, aber die Liebe der Cellokinder ist mehr wert. Du bist ein wunderbarer Mensch, ein treuer, selbstloser Helfer für die Musik und die Not der Kinder. Sollte ich ein bisschen beigetragen haben, ein kleines bisserl nur, so bin ich ganz froh. Ich wünsche Dir eine gute konfliktfreie Heimfahrt, meinen Reisesegen hast Du! 
In wenigen Tagen werden wir Dich herzen! 

Sei behütet und gegrüsst von Deiner Mama! 

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Lemberg, am Mittwoch, 29. Mai 

Liebe Eltern! 

Nach einem halben Arbeitstag (sich anhäufender Schriftverkehr auf dem Computer) in meinem formidablen Quartier des Priesterseminars verabschiede ich mich herzlich von allen, fahre mit meiner Rumpelbahn in die Stadt, esse noch einmal in dem entzückenden Restaurant in der Starojevrejska ulica, dieses Mal im Innern.
Die gut 25 prächtigen, zum Interieur des Lokals gehörenden Kachelöfen bestaunend, frage ich die Kellner und Besitzer, wo sie die alle aufgetrieben hätten. Sie meinen, sie hätten ganz Lemberg zusammengetragen. Das Lokal ist sehr klein, hat aber neben dem Erdgeschoß noch einen ersten Stock und einen Keller. Konnte einmal nicht ein kompletter Kachelofen abgetragen und hier neu aufgemauert werden, wurden die Kacheln zur Täfelung des Untergeschoßes verwendet. Sogar der Spülkasten der dort befindlichen Toilette ist gekachelt. Im Winter muß dieses Lokal ein Anziehungspunkt für die ganze Stadt sein. Es strahlt viel Wärme aus, auch wenn nicht geheizt wird. 

Nach dem Mahl rumple ich zum Bahnhof; weil die Trambahn ewig nicht kommt und dann langsamer als eine Postkutsche fährt, versäume ich fast meinen Zug, der von Kiev kommend über Lemberg weiter nach Przemyśl in Polen fährt. Am Bahnhof sehe ich viele Soldatinnen in Uniform.
Da unser Zug ins Ausland fährt, lassen die Schaffner niemanden unkontrolliert in die Waggons, alle Männer, so auch ich, werden nach ihrer Staatsbürgerschaft gefragt. Im Zug patrouilliert noch einmal Militär und kontrolliert das Alter der Männer. Man kann sich vorstellen, was passieren würde, wenn man zur Gruppe der Auserwählten gehören würde. 

Die Züge in der Ukraine sind sehr zuverlässig uns schnell. Wir sind rasch an der Grenze zu Polen, doch dann geht es wie im Niemandsland zwischen zwei kommunistischen Bruderstaaten zu, was ich früher erlebt habe. Nichts wird angesagt und man wartet einfach, man weiß nicht wie lange. Und so tippe ich froh mein Tagebuch weiter, denn auch dieses möchte fertiggestellt werden.
Gerade müssen wir aussteigen, und ich berichte morgen weiter, nach meiner Stadtbesichtigung von Przemyśl, aus dem Zug nach Wien. 

Übermorgen in der Früh sehen wir uns. Ich freue mich darauf! 

Euer Meinhard 

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                                                          München am Donnerstag, 30. Mai 

Lieber Meinhard, 

Wie beeindruckend und auch mutig von dir! Danke, dass du deine Eindrücke mit mir teilst, es ist wirklich bewegend zu lesen, wie es früher einmal war und was nun mit diesem Land geschieht. 

Wir betreuen über das Kinderzentrum in Odessa Therapien für traumatisierte Kinder und kriegen so mit, dass es oft sehr wenige Angebote für Kinder gibt – meist kein Kindergarten und nur unregelmäßig Schule, da es immer wieder Bombenalarme und Stromausfälle gibt ... So ein Unterrichtsangebot für die jungen Leute ist dann etwas ganz Besonderes, kann auch Perspektive geben für die betroffenen Kinder. Vielleicht kann ich dir die Kolleginnen aus Odessa bei dem Konzert im Herbst vorstellen. 

Wir sind aktuell noch in München. Bei uns geht’s am 8.6. los Richtung Kanada, um Leo abzuholen. Ich freue mich schon sehr! 

Dir noch eine gute Zeit und gute Rückreise. Pass auf dich auf! 

Liebe Grüße, Andrea         
                                                                                                                      


Im Zug, Fronleichnam, 30. Mai 

Liebe Andrea! 

(Andreas Sohn, der liebe Leo ist seit nahezu 10 Jahren mein Schüler, hat noch im Kindergarten mit dem Cello angefangen.) 

Danke für Deine lieben und mitfühlenden Zeilen!
Über traumatisierte Kinder durch mittelbare Kriegsfolgen schreibe ich in meinem Tagebuch, dieses werde ich Dir bald schicken. Mein Unterrichtsangebot wurde als etwas nicht Alltägliches hier angenommen.
Ja, bitte stell mir die Kolleginnen aus Odessa bei dem Konzert im Herbst vor! 

Ich freue mich, daß Leo nach der langen Zeit bald wieder zurück aus Kanada ist, und auf viele weitere Cellostunden mit ihm! Bald feiern wir zehnjähriges Jubiläum!
Ich wünsche euch eine gute Reise nach Vancouver!
Schick Leo gerne meine zwei an Dich gerichteten Tagebucheinträge nach Kanada weiter. 

Mein Hotel in Przemyśl am Fluß San, Demarkationslinie zwischen Deutschland und der Sowjetunion im Hitler-Stalin-Pakt, ich bin auf der westlichen, von Deutschland okkupierten Seite, auf der auch die historische Altstadt liegt. Durch das offene Fenster dringt die ganze Nacht, das Quaken der Frösche, die sich im San sehr wohl fühlen müssen. Es erinnert an das alljährliche legendäre Froschkonzert in Hornegg. Geweckt werde ich von einem regen Jucherzen (Im Dialekt für Jauchzen) eines Fasans. 

Przemyśl, ukrainisch Peremišl, verbindet man nicht mit Idylle. Den Klang von „Pschemischl“ verbindet man mit Zitaten aus Karl Kraus´ "Die letzten Tage der Menschheit".  Im Ersten Weltkrieg, wurde Przemyśl von der k&k Monarchie zur zweitgrößten Festung Europas ausgebaut (nach Verdun), aus Furcht vor dem Ansturm kaiserlich-russischen Truppen, welche sich dann rasch, schon im September 2014, als berechtigt bestätigte. Die Belagerung von Przemyśl war die größte des Esten Weltkriegs, die Einnahme der Festung erfolgte im März 1915. Die symbolische Bedeutung war so hoch, daß im April gar der russische Zar Nikolaus II. die gewonnene Festung Peremišl besuchte. Doch schon im Juni eroberten k&k Truppen und kaiserlich-deutsche Truppen die Region zurück, Przemyśl selbst eine bayerische Division. Für Wien war das eine Schmach, denn ohne kaiserlich-deutschen Beistand hätte die k&k Armee die symbolträchtige Festung nicht zurückerobern können.
Der Zweite Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit bringen noch größeres Leid über die Stadt an der Demarkationslinie. Der unfaßbare deutsche Terror bringt vor allem den ganzen Juden - sie stellen mehr als 40 Prozent der Stadtbevölkerung - Entrechtung, Unterdrückung, Zwangsarbeit, Massenvernichtung und den sicheren Tod. 

An dieser Stelle möchte ich erwähnen, daß in jeder Chronik all der von mir bereisten Städte, seien es nun Chmeljnickij, Kamjanec Podiljskij, Lemberg oder Przemyśl zu lesen steht, was für ein unfaßbares Leid der NS-Terror über diese Städte und Landstriche gebracht hat. Jede osteuropäische Stadt hatte einen starken, oft überwiegenden Anteil an jüdischer Bevölkerung. Diese wurde allerorten mehr oder weniger komplett ausgerottet. Doch auch die slawische Bevölkerung war betroffen, wurde dezimiert, verfolgt, sterilisiert. In den Plänen der Nazis für die Kriegs- und vor allem Nachkriegszeit steht festgeschrieben, daß ganz Europa versklavt, germanisiert und wo nicht möglich zu guten Teilen vernichtet werden soll. Nachzulesen ist das in Ralph Giordanos fesselndem Buch "Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte - Die Pläne der Nazis nach dem Endsieg", besonders im Kapitel über den geplanten und in Teilen schon umgesetzten Zweiten Holocaust, den an den Slawen. Gerade rollt unser Zug in Auschwitz/Oświęcim ein.
Auschwitz und Bahngeleise, das weckt ein flaues Gefühl in der Bauchgegend. Ich bekreuzige mich und halte eine Gedenkminute für all die Opfer. 

Gedanklich schweife ich noch einmal zurück nach Przemyśl. Dieses hat nicht nur mit einer Geschichte des Grauens aufzuwarten. Bevor ich diese kurz umreiße, möchte ich hervorheben, daß Przemyśl sehr sehenswert ist! Die zauberhafte, von Gotik, Renaissance und Barock geprägte Altstadt liegt auf einer Anhöhe in einem ansonsten flachen Landstrich. Man sieht hier am Ring (polnisch Rynek), dem großzügigen Markt- oder Hauptplatz dicht aneinander gedrängt wunderschöne Bürgerhäuser, besonders aus der Renaissance. Wenn man den Berg weiter hinansteigt, trifft man auf eine Front von Kirchen und Kathedralen, die meisten katholisch, zwei greko-katholisch. 

Man sollte für Przemyśl ein paar Stunden einplanen, ich habe leider nicht über so viel Zeit an diesem schönen Ort zu verfügen. Es reicht für ein Frühstück in einer wunderbaren Konditorei und für einen Stadtrundgang. Die Stadt ist wie leergefegt; bald klärt sich, wohin sich ihre Bewohner begeben haben; die frommen Polen sind alle auf den Beinen und auf der Fronleichnamsprozession, besser gesagt - prozessionen, vor jeder Kirche eine. Bald ist die ganze Stadt – ja sicherlich das gesamte Polen eine einzige Prozession!
Man bekommt alles zu Gesicht, was die Stadt an Festlichkeit, Bischöfen, Pfarrern, Ministranten, Schwestern in ihren feierlichen Gewändern aufzubieten hat. Der Zug bewegt sich langsam von der Altstadt über den San in die Neustadt. Ich beginne zu ahnen, daß mir das zum Verhängnis werden kann, daß die Straßen gesperrt werden, eile ins Hotel, hole mein Gepäck, rufe ein Taxi; dieses kämpft sich tapfer durch den feierlichen Zug. Und so versäume ich entgegen meinen Befürchtungen den Zug nach Wien nicht. Fast wäre aus meiner Stippvisite eine ausführliche Besichtigung geworden. 

Peremišl/ Przemyśl war eine Gründung der Kiewer Rus, wurde nach 250 Jahren, im Jahre 1240 von den Mongolen zerstört, infolge des großen Mongolensturms, der dem Reich der Kiewer Rus ein Ende bereitete. Nach der vierhundertjährigen polnisch-litauschen Periode folgte die hundertfünfzigjährige habsburgische, die des wiedererstandenen Polens der Zwischenkriegszeit, nach sowjetischen und NS-Zwischenspielen, die kommunistisch-polnische der Nachkriegszeit, zuletzt die demokratisch-polnische von heute. Przemyśl, an der Grenze zur Ukraine gelegen, war eine polnische Sprachinsel in ukrainisch-dörflicher Umgebung, ganz gleich wie Lemberg. Als Folge der Konferenz zu Teheran, wurde Polen umgeklappt und Przemyśl Teil dieses Staates. 

Nach der Vertreibung der Polen aus der Ukraine, ersparten die Polen den hier lebenden Ukrainern nicht die Wiederholung dessen, was sie gerade erlebt haben, wollten sie in die Sowjetunion umsiedeln. Die Pläne scheiterten, so wurden neue gefaßt: In der "Aktion Weichsel" wurden die Ukrainer innerpolnisch in die neuen, "wiedergewonnenen Gebiete" des zum dritten Mal neugeschaffenen Polens vertrieben, ins heutige West- und Nordpolen; gerade waren von dort, den bislang deutschen Provinzen Schlesien, Pommern, Ostpreußen alle Deutschen vertrieben worden. Die ukrainischen Flüchtlinge wurden in dieser neuen "Heimat" zusammen mit polnischen Flüchtlingen aus dem nun sowjetischen Ostpolen angesiedelt. Die Rückkehr wurde ihnen durch Dekrete unmöglich gemacht. Der Plan ging auf, heute sind so gut wie alle  Ukrainer assimiliert. Die noch nicht vernarbte blutige Geschichte Osteuropas, eines der dunkelsten Kapitel der Menschheit, begleitet einen hierzulande auf Schritt und Tritt. In der Ukraine ist sie heute bzw. gestern in eine neue Runde gegangen. 

Bald nach Auschwitz stimmen die polnisch-slowakischen Abhänge der Karpaten versöhnlich, mein Zug rollt weiter, durch das ganze östliche Mähren (, dieses zauberhafte Land haben wir vor einem Jahr bereist), weiter nach Wien. Dort ist ein kurzes Treffen mit meiner Schwester Christiane und ihrem Sohn Valentin geplant, um mir das Warten auf den Flixbus nach Graz zu verschönern, doch daraus wird nichts; ich stelle fest, daß ich im direkten Zug von Przemyśl - Graz sitze. Wie verlockend - meine Leser und ich selbst werden bestimmt diese Reisemöglichkeit nutzen. Was man auf dieser Strecke nicht alles besichtigen kann - Przemyśl - Tarnow - Krakau - Auschwitz - Mährisch Ostrau - Olmütz - Wien - Graz.  

 

Nach einem dreitägigen Aufenthalt zuhause auf Gut Hornegg, geht es am Sonntag mit dem Flixbus heim nach München.
Dort schließt sich geographisch und pädagogisch der Kreis meiner Reise, zurück zu meinen lieben Münchner Schülern, an die ich in den vergangenen zwei Wochen so viel denken mußte! 

Liebe Grüße von eurem Meinhard!

 

(Es schreibt mir mein 15-jähriger Schüler Leo, der gerade auf Schüleraustausch in Kanada ist:) 

Vancouver, am 4. Juni

Lieber Meinhard, 

ich kam leider erst heute dazu das Tagebuch, das du während deiner Zeit in der Ukraine geschrieben hast, zu lesen.
Ich bin wirklich überwältigt von all den schlimmen Sachen, von denen du erzählst und ich kann mir gar nicht vorstellen wie die Menschen, die dort leben jeden Tag sich fühlen müssen. Wie du einige Male ja erwähnt hast, haben wir alle so viel Glück, in unserer Welt leben und ein friedliches Leben führen zu können.
Ich finde es unglaublich mutig und toll von dir in die Ukraine zu reisen um Kindern eine Freude zu machen und sie über Musik zu verbinden. Daran sieht man ein weiteres Mal, wie sehr du das Musizieren liebst und auch wie sehr Musik Menschen glücklich macht und verbindet.
Außer dieser kurzen Lesepause habe ich fast das ganze Tagebuch auf einmal durchgelesen, da ich es so unglaublich interessant und fesselnd finde. Ich denke du solltest wirklich darüber nachdenken das irgendwo richtig zu veröffentlichen.

Zum Schluss wollte ich dir einfach nochmal danke sagen, dass du all diese Erfahrungen mit mir – und natürlich mit allen anderen – teilst! 

Ich freue mich schon auf unser baldiges Wiedersehen!

Dein Leo

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Gleich nach meiner Rückkehr habe ich dieses Tagebuch in einem Rundmail an meine Schüler versendet.
In dieses habe ich nur die bemerkenswerte Stellungnahme meines 15-jährigen Schülers Leo aufgenommen.

Hier finden sich weitere Reaktionen und Antworten auf das Tagebuch.